Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates; insbesondere ist eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muß er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung. In ihr artikuliert sich die öffentliche Meinung.
Bundesverfassungsgericht, Spiegel-Urteil vom 5. August 1966
Die vorstehenden vier Sätze sind mittlerweile 44 Jahre alt. Dennoch beinhalten sie eigentlich alle Antworten auf die Fragen, die sich uns Deutschen in der WikiLeaks-Debatte stellen.
Eine Frage wäre zum Beispiel, warum deutsche Politiker trotz der Steilvorlagen aus den USA merkwürdig zurückhaltend darin sind, die Redakteure des Spiegel, welche die US-Diplomatendepeschen dem deutschen Publikum näherbringen, in die Nähe des Cyber-Terrorismus oder Landesverrats zu rücken.
Ganz einfach, weil sie wissen, dass sich jeder, der es nach Franz-Josef Strauß erneut versuchte, eine blutige Nase geholt hat. Zuletzt waren das jene Ermittler, welche die Cicero-Redaktion filzten, weil sie so auf die Spur eines Maulwurfs beim Bundeskriminalamt kommen wollten. Beihilfe zum Geheimnisverrat wurde den Cicero-Journalisten vorgeworfen. Ein übles Konstrukt schon deswegen, weil Geheimnisverrat nur ein Staatsdiener begehen kann. Das hat das Bundesverfassungsgericht dann auch in einer erneuten Grundsatzentscheidung zur Pressefreiheit sehr schmerzlich für die Verantwortlichen seziert.
Die Karlsruher Richter stellten klar, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmen bei Presseangehörigen unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu ermitteln (Cicero-Urteil vom 27. Februar 2007).
Das sind Marksteine.
Aber darüber hinaus findet sich von der Spiegel-Affäre bis Cicero in allen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Thema die klare Ansage, dass die Presse sich gerade auch auf Informationen stützen darf, denen vordergründig der Makel des Illegalen anhaftet. Es gibt schlicht kein Berichterstattungsverbot über zugespielte Papiere aus Ministerien, Fraktionen, Geheimdiensten oder Polizeibehörden, mögen diese auch doppelt und dreifach als „vetraulich“ oder sogar „geheim“ gestempelt sein.
Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist deutlich zu lesen, dass die Presse ihrer Rolle als 4. Gewalt überhaupt nur dann gerecht wird, wenn sie nicht nur Pressemitteilungen aus Politik, Verwaltung und Gerichten abnudelt. Nein, sie kann und soll den anderen Gewalten auf die Füße treten, indem sie gerade Informationslecks nutzt, um auch die unbequemen Dinge ans Licht zu bringen. Damit erst befriedigt die Presse den Anspruch des Bürgers auf „umfassende Information“, und zwar über den wahren Zustand der Gesellschaft, in der er lebt. Die Pressefreiheit umfasst auch die gesamte Verwertungskette. Informanten- und Quellenschutz sind deshalb keine Phrasen aus Agentenfilmen, sondern handfeste juristische Realität.
So wie niemand die Redakteure des Spiegel für ihre „Enthüllungen“ einbuchten kann, so wenig könnte man es in Deutschland mit den Machern von WikiLeaks machen.
Die einzige Unsicherheit wäre die Frage, ob WikiLeaks wirklich „Presse“ ist. Daran besteht für mich aber kein Zweifel. Zwar beschränkt sich die Tätigkeit von WikiLeaks auf die Dokumentation. Aber gerade die Dokumentation ist eine der Kernaufgaben des Journalismus. Zudem ändern sich die Zeiten. Das Internet ermöglicht nun mal erst einen ganz neuen Journalismus durch Fakten. Denn hier gibt es anders als bei Printmedien keine Obergrenzen für die Informationsmengen und auch keine Begrenzung des Publikums. WikiLeaks hat das als erstes begriffen, es kongenial umgesetzt und sich so wahrscheinlich zum weltweit derzeit meistbeachteten und vermutlich auch wichtigsten Medium überhaupt gemacht.
Die Reaktion der Politik spricht ja ohnehin für sich.
Das Land, aus dem die Botschaftsdepeschen stammen, ist dummerweise an sich auch noch Hort der nahezu unbegrenzten Meinungsfreiheit. Aber statt hierauf stolz zu sein, die Sache entsprechend sportlich zu nehmen und allenfalls im Stillen mit den Zähnen zu knirschen, fordern US-Politiker und sogar Zeitungsjournalisten offen den Tod des Frontrunners Julian Assange, die Einstufung von WikiLeaks als terroristische Organisation und ein Gesetz, das kurz mal jedes Whistleblowing zum Nachteil der USA unter drastische Strafen stellt.
Überdies dürfte auch erst staatlicher Druck dazu geführt haben, dass Privatunternehmen wie Amazon, PayPal, Mastercard und jetzt auch Visa WikiLeaks den Speicherplatz entziehen und Zahlungswege austrocknen. Was wegen der noch geltenden Meinungsfreiheit wahrscheinlich kein US-Gericht abgesegnet hätte, wird so über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Unternehmen durchgesetzt. Dieses nicht mal ernsthaft kaschierte Foul Play dürfte die USA langfristig wahrscheinlich mehr Sympathie kosten, als sie durch die ohnehin nicht mehr zu stoppenden Botschaftsdepeschen jemals verlieren konnten.
Wenn es noch munter weiter geht, könnten sich vielleicht sogar dramatische Visionen erfüllen. Zum Beispiel jene, wonach WikiLeaks der Auslöser eines Krieges sein könnte, der auf dem Schlachtfeld Internet ausgetragen wird. Auf der einen Seite die Front von Regierungen und Unternehmen, welche den Kontrollverlust über das Internet rückgängig machen wollen. Auf der anderen Seite ihre eigenen Bürger, die sich das nicht gefallen lassen und ihrerseits zu den Waffen greifen – Tastatur, Technikverstand, Datenleitungen und Speicherplatz.
Der Aufruf WikiLeaks, die Seite auf möglichst vielen Rechnern gleichzeitig verfügbar zu machen, könnte als erste echte Mobilmachung auf der nichtstaatlichen Seite dieses Konflikts in die Geschichte eingehen. Die Frage nach den Risiken der Fußsoldaten in diesem Fall ist aus meiner Sicht recht einfach zu beantworten. Es gibt keine nennenswerten, sofern man damit leben kann, vielleicht kein Visum mehr für die USA zu kriegen.
Mancherorts wird ja sogar geraunt, wer WikiLeaks hilft, könne sich möglicherweise strafbar machen, weil er Staatsgeheimnisse verrät oder gar Landesverrat begeht. Hier hilft noch mal ein Blick zurück. Auch der Spiegel zitierte in seinem historischen Titel „Bedingt abwehrbereit“ aus regierungsinternen Dokumenten. Die Verfassungsrichter diskutierten zwar die Möglichkeit, dass hierdurch die äußere Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet wurde, sie sahen aber schon gar keine Vorsatz bei Rudolf Augstein und seinen Redakteuren in Richtung eines Landesverrats.
So dürfte es auch bei den WikiLeaks-Dokumenten sein. Es geht den Beteiligten vorrangig um die Aufdeckung von Missständen und (unbekannten) politischen Mechanismen, nicht aber darum, der Sicherheit eines Staates einen schweren Nachteil zuzufügen. Wobei noch dazu zu sagen ist, dass die Stoßrichtung der einschlägigen Strafvorschriften auf Handlungen zum Nachteil Deutschlands geht. Die USA oder Frankreich werden höchstens über die internationale Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erfasst. Dafür bedarf es schon einiger juristischer Klimmzüge. Cicero lässt grüßen.
Ein Staatsgeheimnis ist auch nur so lange ein Staatsgeheimnis, wie es geheim ist. Bereits veröffentlichte Informationen sind deshalb kein Geheimnis mehr. Außerdem stellt sich die Frage, ob jemand, der Serverplatz zur Verfügung stellt, sich die Inhalte des Nutzers überhaupt zu eigen macht und persönlich dafür haftet. Nach deutschem Recht wird man durch Beherbergung fremder Daten Provider. Als solcher haftet man zunächst mal ebensowenig für die Inhalte seines „Kunden“ wie der kommerzielle Provider, bei dem der Server angemietet ist.
In diesem Zusammenhang darf man durchaus den Hut vor jenen deutschen Providern ziehen, die nicht den Weg von Amazon, Paypal, Mastercard und Visa gehen. Etliche Provider haben heute ausdrücklich erklärt, dass sie Kunden nicht deshalb den Vertrag kündigen werden, weil diese WikiLeaks unterstützen.
Wer sich das Providerprivileg nicht selbst verhageln möchte, sollte seinem „Gast“ möglichst freie Hand auf dem Server geben. Wer dagegen eigenständig entscheidet, welche Inhalte der „Gast“ auf dem Server ablegen darf, macht sich durch Prüfung und Freigabe dessen Inhalte zu eigen. Das führt dann entsprechend schnell zu eigener Haftung.
Bleibt als Unsicherheitsfaktor noch das Urheberrecht. Zumindest fürs nichtbetroffene Publikum wäre es natürlich eine reizvolle Vorstellung, dass Hillary Clinton am Landgericht Hamburg klagt. Es dürften aber noch erhebliche Rückschläge für die US-Administration nötig sein, bevor sie sich auf dieses glatte Terrain begibt. Rutschgefahr deswegen, weil Behördendokumente in den USA und Deutschland urheberrechtlich viel weniger geschützt sind, sagen wir, das Drehbuch für die Fernsehserie „24“.
Das ist kein Aufruf, in den Krieg zu ziehen. Aber auch keine Warnung davor.