Ich bin Jahrgang 1964. Das Medikament Contergan wurde bis zum Herbst 1961 verkauft – und mitunter von ahnungslosen Frauen sogar noch nach diesem Zeitpunkt eingenommen. Ich habe die Opfer dieses Medikaments als Kind gesehen und zwei sogar gekannt; sie gingen einige Jahre mit mir aufs Gymnasium. Contergan-Geschädigte gehören zu den wenigen Bildern, die ich problemlos aus meiner Kindheit aufrufen kann. Vielleicht liegt das an der schon früh gespürten Erleichterung, selbst nicht von diesem Schicksal getroffen worden zu sein.
Leider hat das Bundessozialgericht nun dazu beigetragen, dass ich im Zusammenhang mit diesen Erinnerungen ziemlich wütend geworden bin. Die Richter bestimmten nämlich in einem Beschluss, dass die Eltern eines verstorbenen Contergan-Opfers das angesparte Vermögen ihres Kindes an die Sozialhilfe zurückzahlen müssen. Im entschiedenen Fall geht es um 28.000 Euro.
Die meisten Contergan-Opfer erhielten nach jahrelangen Auseinandersetzungen Schadensersatz und eine monatliche Rente. In einem Gesetz war bestimmt worden, dass diese Zahlungen nicht mit der Sozialhilfe verrechnet werden dürfen. Das war ja auch sinnvoll, denn die Zahlungen waren als dauerhafter Ausgleich für die körperlichen und seelischen Schäden gedacht. Sie sollten nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts dienen müssen.
Das Bundessozialgericht hat nun entschieden, dass den Erben eines Contergan-Opfers dieses Privileg nicht zukommt. Die Richter legen die Vorschrift, welche das möglicherweise angesparte Geld aus den Entschädigungszahlungen vor dem Zugriff der Sozialhilfe schützt, eng aus. Danach gilt die Regelung nur für die Betroffenen selbst, nicht aber für ihre Erben. Im entschiedenen Fall sind das die Eltern. Diese müssen, so das Bundessozialgericht, maximal bis zum Wert des Nachlasses jene Sozialhilfe zurückzahlen, die man von ihrer Tochter nicht verlangen konnte.
Es wäre sicher kein ungangbarer Weg gewesen, die Vorschrift anders auszulegen. Es bedurfte letztlich auch nur einer „besonderen Härte“, um von der Rückforderung gegenüber den Eltern abzusehen.
Nicht nur das behindert geborene Kind, auch das Leben der Eltern wird wegen Contergan ein anderes gewesen sein – bestimmt kein besseres. Dessen ungeachtet erklären die Bundesrichter lapidar, es liege keine „besondere Härte“ vor. Begründet wird dies auch damit, die im Alter von 42 Jahren Verstorbene sei ja seit 1968 in einem Heim untergebracht gewesen. Ihre Eltern hätten sie nur ab und zu, zum Beispiel an den Wochenenden und im Urlaub, gepflegt. Nur eine eigenhändige Versorgung „rund um die Uhr“, so das Bundessozialgericht in kühler Kleinlichkeit, könne eine besondere Härte ergeben.
Etwas Mitgefühl täte manchmal auch Juristen gut.