Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB, die den Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Der Gesetzgeber hat seinen Entscheidungsspielraum nicht überschritten, indem er die Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, den Schutz der in einer Inzestbeziehung „unterlegenen“ Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen als ausreichend erachtet hat, das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu strafrechtlich zu sanktionieren.
Damit war die Verfassungsbeschwerde des wegen Beischlafs zwischen
Verwandten gemäß § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB zu mehreren Freiheitsstrafen
verurteilten Beschwerdeführers ohne Erfolg.
Der Richter Hassemer hat der Entscheidung eine abweichende Meinung
angefügt. Nach seiner Auffassung steht die Norm mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Geschwisterinzest mit Strafe zu
bewehren, ist nach dem in erster Linie anzulegenden Maßstab von Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Recht auf sexuelle
Selbstbestimmung) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Der Gesetzgeber beschränkt mit der Strafnorm des § 173 Abs. 2 S. 2
StGB das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung leiblicher Geschwister,
indem er den Vollzug des Beischlafs mit Strafe bedroht. Damit werden
zwar der privaten Lebensgestaltung insbesondere dadurch Grenzen
gesetzt, dass bestimmte Ausdrucksformen der Sexualität zwischen
einander nahe stehenden Personen pönalisiert werden. Darin liegt
jedoch kein dem Gesetzgeber von vornherein verwehrter Eingriff in
den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Der Beischlaf zwischen
Geschwistern betrifft nicht ausschließlich diese selbst, sondern
kann in die Familie und die Gesellschaft hinein wirken und außerdem
Folgen für aus der Verbindung hervorgehende Kinder haben. Da das
strafrechtliche Inzestverbot nur ein eng umgrenztes Verhalten zum
Gegenstand hat und die Möglichkeiten intimer Kommunikation nur
punktuell verkürzt, werden die Betroffenen auch nicht in eine mit
der Achtung der Menschenwürde unvereinbare ausweglose Lage versetzt.
2. Der Gesetzgeber verfolgt mit der angegriffenen Norm Zwecke, die
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind und jedenfalls in
ihrer Gesamtheit die Einschränkung des Rechts auf sexuelle
Selbstbestimmung legitimieren.
a) Als Strafgrund des § 173 StGB steht der Schutz von Ehe und
Familie in den Erwägungen des Gesetzgebers an erster Stelle.
Empirische Studien zeigen, dass der Gesetzgeber sich nicht
außerhalb seines Einschätzungsspielraums bewegt, wenn er davon
ausgeht, dass es bei Inzestverbindungen zwischen Geschwistern zu
gravierenden familien- und sozialschädigenden Wirkungen kommen
kann. Inzestverbindungen führen zu einer Überschneidung von
Verwandtschaftsverhältnissen und sozialen Rollenverteilungen und
damit zu einer Beeinträchtigung der in einer Familie
strukturgebenden Zuordnungen. Solche Rollenüberschneidungen
entsprechen nicht dem Bild der Familie, das Art. 6 Abs. 1 GG zu
Grunde liegt. Es erscheint schlüssig und liegt nicht fern, dass
Kinder aus Inzestbeziehungen große Schwierigkeiten haben, ihren
Platz im Familiengefüge zu finden und eine vertrauensvolle
Beziehung zu ihren nächsten Bezugspersonen aufzubauen. Die
lebenswichtige Funktion der Familie für die menschliche
Gemeinschaft, wie sie der Verfassungsgarantie des Art. 6 Abs. 1
GG zugrunde liegt, wird entscheidend gestört, wenn das
vorausgesetzte Ordnungsgefüge durch inzestuöse Beziehungen ins
Wanken gerät.
b) Soweit zur Rechtfertigung der Strafnorm der Schutz der sexuellen
Selbstbestimmung herangezogen wird, kommt diesem Normzweck auch
im Verhältnis zwischen Geschwistern Relevanz zu. Der Einwand, der
Schutz der sexuellen Selbstbestimmung sei durch §§ 174 ff. StGB
(Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) umfassend und
ausreichend gesichert und rechtfertige § 173 Abs. 2 S. 2 StGB
daher nicht, übergeht, dass § 173 StGB spezifische, durch die
Nähe in der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde
Abhängigkeiten und Schwierigkeiten der Einordnung und Abwehr von
Übergriffen im Blick hat.
c) Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte
gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus
einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten
Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr
erheblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne. Im
medizinischen und anthropologischen, von empirischen Studien
gestützten Schrifttum wird auf die besondere Gefahr des
Entstehens von Erbschäden hingewiesen.
d) Die angegriffene Strafnorm rechtfertigt sich in der
Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund
einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen
gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des
Inzestes, wie sie auch im internationalen Vergleich festzustellen
ist. Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung,
der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie
erfüllt die Strafnorm eine appellative, normstabilisierende und
damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen des
Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt.
3. Die angegriffene Norm genügt auch den verfassungsrechtlichen
Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und
Verhältnismäßigkeit einer freiheitsbeschränkenden Regelung.
a) Der Strafbewehrung des Geschwisterinzestes kann die Eignung, den
erstrebten Erfolg zu fördern, nicht abgesprochen werden. Der
Einwand, die angegriffene Strafnorm verfehle aufgrund ihrer
lückenhaften Ausgestaltung und wegen des
Strafausschließungsgrunds des § 173 Abs. 3 StGB (keine Bestrafung
Minderjähriger) die ihr zugedachten Zwecke, verkennt, dass mit
dem Verbot von Beischlafshandlungen ein zentraler Aspekt
sexueller Verbindung zwischen Geschwistern unter Strafe gestellt
wird, dem für die Unvereinbarkeit des Geschwisterinzestes mit dem
traditionellen Bild der Familie eine große Aussagekraft zukommt
und der eine weitere sachliche Rechtfertigung in der
grundsätzlichen Eignung dieser Handlung findet, über das Zeugen
von Nachkommen weitere schädliche Folgen hervorzurufen. Daher
stellt der Umstand, dass beischlafähnliche Handlungen und
sexueller Verkehr zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern
nicht mit Strafe bedroht sind, andererseits der Beischlaf
zwischen leiblichen Geschwistern auch in den Fällen, in denen
eine Empfängnis ausgeschlossen ist, den Straftatbestand erfüllt,
die grundsätzliche Erreichbarkeit der Ziele des Schutzes der
sexuellen Selbstbestimmung und der Vorsorge vor genetisch
bedingten Krankheiten nicht in Frage. Entsprechendes gilt für den
Einwand, die Strafnorm erreiche wegen des
Strafausschließungsgrundes für Minderjährige (§ 173 Abs. 3 StGB)
die Geschwister erst, wenn sie sich typischerweise aus dem
Familienverband lösten, weshalb sie zum Schutz der
Familienstruktur ungeeignet sei.
b) Die angegriffene Norm unterliegt auch im Hinblick auf ihre
Erforderlichkeit keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Zwar
kommen in Fällen des Geschwisterinzestes
vormundschaftsgerichtliche und jugendwohlfahrtspflegerische
Maßnahmen in Betracht. Diese sind gegenüber der Strafbewehrung
jedoch keine milderen Mittel gleicher Wirksamkeit. Sie zielen
eher auf die Verhinderung und Beseitigung von Normverletzungen
und deren Folgen im konkreten Fall; ihnen kommt in der Regel
keine generalpräventive und normstabilisierende Wirkung zu.
c) Die Strafdrohung ist schließlich nicht unverhältnismäßig. Der
vorgesehene Strafrahmen erlaubt es zudem, besonderen
Fallkonstellationen, in denen die geringe Schuld der
Beschuldigten eine Bestrafung als unangemessen erscheinen lässt,
durch Einstellung des Verfahrens nach
Opportunitätsgesichtspunkten, Absehen von Straf oder besondere
Strafzumessungserwägungen Rechnung zu tragen.
Dem Sondervotum des Richters Hassemer liegen im Wesentlichen folgende
Erwägungen zugrunde:
§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB steht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
nicht in Einklang.
Die Norm verfolgt schon kein Regelungsziel, das in sich
widerspruchsfrei und mit der tatbestandlichen Fassung vereinbar wäre.
Eine Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte ist von vornherein
kein verfassungsrechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm. Auch geben
weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzessystematik Hinweise, dass
der oder auch nur ein Schutzzweck der Bestimmung gerade in der Wahrung
des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung liegen könnte. Schließlich
findet das Verbot des Geschwisterinzestes seine verfassungsrechtliche
Rechtfertigung auch nicht im Schutz von Ehe und Familie. Unter Strafe
gestellt ist lediglich der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern.
Ausgenommen sind alle anderen sexuellen Handlungen zwischen Bruder und
Schwester. Nicht erfasst sind auch sexuelle Beziehungen zwischen
gleichgeschlechtlichen sowie zwischen nicht leiblichen Geschwistern.
Wäre die Strafvorschrift wirklich auf den Schutz der Familie vor
sexuellen Handlungen angelegt, so würde sie sich auf diese
familienstörenden Handlungen erstrecken. Es spricht viel dafür, dass
die Vorschrift in der bestehenden Fassung lediglich Moralvorstellungen,
nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat. Der Aufbau oder der
Erhalt eines gesellschaftlichen Konsenses über Wertsetzungen aber kann
nicht unmittelbares Ziel einer Strafnorm sein.
Für die mit § 173 Abs. 2 S. 2 StGB verfolgten Ziele bietet die Norm
zudem keinen geeigneten Weg. Der Straftatbestand ist mit seiner
Beschränkung der Strafbarkeit auf Beischlafshandlungen zwischen
Geschwistern verschiedenen Geschlechts nicht in der Lage, den Schutz
einer Familie vor schädlichen Einwirkungen durch sexuelle Handlungen zu
gewährleisten. Er greift zu kurz, weil er gleich schädliche
Verhaltensweisen nicht erfasst und zudem nichtleibliche Geschwister als
mögliche Täter nicht einbezieht. Er geht zu weit, weil er
Verhaltensweisen erfasst, die sich – aufgrund der Volljährigkeit der
Kinder und des damit einhergehenden Ablösungsprozesses von der Familie
– auf die Familiengemeinschaft nicht (mehr) schädlich auswirken können.
Die Strafbarkeit des Geschwisterinzestes begegnet darüber hinaus
verfassungsrechtlichen Bedenken aus dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Verfügbarkeit anderer
hoheitlicher Maßnahmen, die den Schutz der Familie in gleicher Weise
oder sogar besser gewährleisten können, wie etwa
jugendwohlfahrtpflegerische sowie familien- und
vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen.
Schließlich kollidiert die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB
mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot. Es fehlt der Norm an
gesetzlichen Beschränkungen der Strafbarkeit für ein Verhalten, das
keinem der möglichen Schutzzwecke gefährlich werden kann.